Ihr müsst meinen Retter finden

Freitag, 15. September 2006

Margret und Werner Müller sind religiöse Menschen und haben lange Zeit relativ unauffällig mit ihren beiden Kindern in Köln gelebt. Über das Maximilian-Kolbe-Werk lernen sie Überlebende des Holocaust in Polen und in der Ukraine kennen und schließen sich dem Kolbe  Versöhnungswerk an. Fahren immer wieder nach Polen und in die Ukraine, halten Briefkontakt mit den Menschen, denen sie dort begegnen.
In Warschau wird Margret Müller von Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Kiew angesprochen. Am Ende des Gesprächs sagt er zu ihr und ihrem Mann Werner: »Ihr müsst meinen Retter finden.« Es ist mehr als eine Bitte. Pjotr ist einer der sehr wenigen Überlebenden des Ghettos in Pinsk. Ein deutscher Offizier riskiert im Oktober 1942 sein Leben, um das des jungen Fernmeldetechnikers Pjotr zu retten. Nur sehr wenige glauben Pjotr seine Geschichte. Deshalb muss er seinen Retter finden.
Von seiner Mutter holt Pjotr sich damals die Erlaubnis für seine Rettung: »Wenn du am Leben bleibst, musst du erzählen, was man mit uns gemacht hat.« 28.000 Juden werden erschossen und in Massengräbern verscharrt.
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 wird Pjotr ohne jegliche Schutzmaßnahmen mit anderen Fernmeldetechnikern aus Kiew nach Tschernobyl geschickt, um dort die Fernmeldeanlagen wieder instand zu setzen. Seine Kollegen sind inzwischen alle gestorben. Auch Pjotr hat Krebs, aber er muss das Vermächtnis seiner Mutter erfüllen und lebt bis heute.
Werner Müller sucht eine Stecknadel im Heuhaufen. Mit großem Geschick und viel Glück findet er die Familie des Retters Günter Krull. Der ehemalige deutsche Offizier lebt nicht mehr, aber die Familie weiß von der Rettung des jungen Juden von Pinsk.
Werner Müller lässt sich von Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch dessen Geschichte erzählen und schreibt sie auf. Im Frühjahr 2001 erscheint das Buch »Aus dem Feuer gerissen«. Werner Müller hat Pjotrs Geschichte überprüft und weist in einem Dokumentarteil am Ende des Buches nach, dass alle seine Aussagen der Wahrheit entsprechen.

Als ich Pjotr das Buch bei seiner Ankunft in Köln überreiche, drückt er mir lange die Hand, schaut mir tief in die Augen, bedankt sich dann sehr bewegt und sagt: »Das ist der Grabstein meiner Familie.«
Es folgen beeindruckende Lesungen mit Pjotr, Margret und Werner Müller. Die erste im Lew-Kopelew-Forum in Köln. Besonders beeindruckend ist die Lesung in der Olbricht Kaserne in Leipzig vor deutschen Offizieren und Soldaten der Bundeswehr. Der Polizeipräsident von Leipzig kommt in grüner Uniformjacke, ähnelt eher einem Dorfpolizisten von früher. Der General der Kaserne, gerade neu im Amt, hält die Einführung. Werner Müller spricht von der Zivilcourage des Offiziers. Ein Gespräch danach gibt es nicht. Die Soldaten sind schnell verschwunden. Bücher werden nicht gekauft.

Senefelder Straße – Westkurve

Donnerstag, 14. September 2006

Marco hat wie bei der WM die große Leinwand und Lautsprecher draußen angebracht. Das kleine HSV-Stadion ist in der Kneipe und auch draußen auf dem Fußweg schon gut besetzt, als ich eine halbe Stunde vor dem Anpfiff komme. Ich nehme mir einen Barhocker und setze mich an den Straßenrand. Ein lauer Sommerabend. Zwischen den Bäumen sehe ich Sterne. Es riecht nach Sieg im ersten Spiel der Hamburger in der  Champions-League. Ein furioser Auftakt des HSV. Lehmann im Arsenal Tor wird in Bedrängnis gebracht. Immer wieder Szenenapplaus aus der Westkurve – Senefelder Straße. Doch dann blankes Entsetzen. Ein Konter der Londoner, eine Schwalbe des Arsenal Stürmers und der HSV Torwart bekommt rot und muss vom Platz.
In der 35 Minute hält ein Mannschaftswagen der Polizei neben mir. Die Schiebetür geht auf. Erinnerungen kommen hoch. Ich schaue nach rechts und links. Eine Frittenbude ist nicht in der Nähe. Bin gespannt, was die wollen. Es passiert nichts. Ich konzentriere mich aufs Spiel. Nach zehn Minuten bittet ein Polizist um Ruhe. Man solle ihm zuhören. Ein Nachbar habe sich beschwert. Wenn wir das Spiel draußen zu Ende sehen wollten, müssten wir leise sein. Wer war dat? Wer hat sich beschwert? Anonym!
Der Polizist verschwindet im Mannschaftswagen. Die Tür bleibt weiter offen. Zehn Minuten können sie sich das Spiel mit ansehen. Der Ton ist leise gestellt. Die Westkurve verhält sich ruhig. Auch wegen des Spiels. Erst zum Schluss wird der HSV noch einmal vor Lehmanns Tor gefährlich. Das 2:1 wird kurz und intensiv bejubelt. Schlusspfiff.

Ich gehe um die Ecke in die Göhrenerstraße, schalte das Licht im Schaufenster des Verlages aus und lasse die Rollladen runter.

Ein deutscher Pole

Freitag, 8. September 2006

Heute Morgen rief mich Teodor Müller an. Das letzte Mal sprach ich ihn vor anderthalb Jahren. Er meldete sich immer Heiligabend bei mir. Im letzten Jahr blieben sein Anruf und seine guten Wünsche aus, und ich dachte, nun ist er doch nicht mehr hundert Jahre alt geworden, was für ihn immer als selbstverständlich galt.
Teodor Müller wurde als deutscher Pole in eine schlesische Weberfamilie geboren. Schon der Großvater erkannte den techni-
schen Wandel und so wurde sehr früh und erfolgreich auf eine maschinelle Produktion umgerüstet.
Teodor Müller, dieser vitale, humorvolle, lebenslustige Mann, verkörpert ein Stück deutsch-polnischer Geschichte. Von der polnischen Obrigkeit interniert, dann von der Gestapo gefangen genommen, später von der sowjetischen Geheimpolizei als Kapitalist verhaftet und im Anschluss von den Polen in ein Arbeitslager für Deutsche gesteckt. Der polnische Schriftsteller Jerzy Korczak hat diese unglaubliche Geschichte aufgeschrieben.Wir haben sie übersetzen lassen und hatten trotz Polenschwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse keinen großen Erfolg damit. Das Interesse der Deutschen an den Polen war damals und ist noch heute sehr gering.
Gerade jetzt, in den sehr gespannten deutsch-polnischen Beziehungen, kann ich dieses Buch nur jedem empfehlen, der etwas über unsere gemeinsame Geschichte erfahren will. Kurz vor seinem Tod schrieb Andrzej Szcypiorski ein Vorwort zur deutschen Übersetzung:
»Es ist eine etwas exotische Geschichte, weil sie der Zusammenarbeit, der Solidarität und der Freundschaft zwischen einem Deutschen und den Polen in der dramatischen Zeit der deutsch-polnischen Geschichte gewidmet ist.«
Fast mit jedem Buch, das ich herausgebe, erfahre ich etwas über ein für mich neues Stück Zeitgeschichte und noch viel wichtiger, ich lerne einen neuen Menschen und die Einmaligkeit seines Lebens kennen.

Amsterdam, Egelantiersgracht 66

Mittwoch, 6. September 2006

Ein schöner Spätsommermorgen. Ich stehe früh auf, um vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Es zieht mich noch einmal zur  Egelantiersgracht, Haus Nummer 66. Hier wohnte Theun de Vries, der große niederländische Romancier. Das Haus spiegelt sich im Wasser. Auf der Brücke mit den grüngestrichenen eisernen Geländer habe ich ihn bei meinem letzten Besuch fotografiert. Er stieg die steilen Treppen der zwei Stockwerke seines Hauses erstaunlich schnell hinunter, obwohl er bereits weit über neunzig war, zog seinen blauen Mantel an, setzte seine Baskenmütze auf und stand mir Model.

Theun de Vries-webDer berühmteste Roman von Theun de Vries »Das Mädchen mit dem roten Haar« wurde verfilmt und wird immer wieder mal im deutschen Fernsehen gezeigt. Eine junge, aus bürgerlichem Hause stammende Studentin aus Amsterdam wird Schritt für Schritt zur Widerstandskämpferin gegen die deutschen Besatzer. Mit einer kleinen Gruppe von Kommunisten kämpft sie gegen niederländische Kollaborateure.

Sein Debüt gab Theun de Vries 1931 mit seinem Roman »Rembrandt«. Den veröffentlichten wir 1999. Theun de Vries hat viele Künstlerromane geschrieben. »Die Kardinalsmotette«, die wir als zweiten Roman publizierten, ist eine Liebeserklärung an die Musik, ein wundervolles Porträt des Komponisten Josquin des Prés und eine lebendige Schilderung der Zeit der Renaissance in Italien.

Und der dritte Roman, der im Dittrich Verlag erschien, »Vincent und Sien«, behandelt das Leben van Goghs mit einer Prostituierten in Den Haag. Weitere Bücher wagten wir uns nicht herauszugeben. Die Presse und vor allem die Buchhändlerinnen und Buchhändler ignorierten unser Bemühen, diesen großen niederländischen Romancier auch im Westen Deutschlands bekannt zu machen. In der DDR wurde er viel gelesen und auch in anderen osteuropäischen Ländern wurden seine Bücher übersetzt.

Eine schöne Geschichte: Bei der Überarbeitung der Übersetzung des Romans »Vincent und Sien« fiel uns auf, dass ein komplettes Kapitel im DDR-Buch fehlte. Es geht dort um die Syphilis, an der van Gogh erkrankt war. Da es im Sozialismus keine Syphilis gibt, hat man damals einfach dieses Kapitel gestrichen. Nach der Wende konnte wir diese Passagen wieder hinzusetzen, denn inzwischen gab es die Geschlechtskrankheiten auch wieder in den ostdeutschen Bundesländern.

Als Kommunist hatte Theun de Vries auf dem westdeutschen Buchmarkt nach dem Krieg keine Chance. Zu Beginn des neuen Jahrtausends leider immer noch nicht. Aber jetzt wird sein Roman »Rembrandt« wieder gelesen. Soeben ist er in der vierten Auflage unserer bearbeiteten Übersetzung bei dtv erschienen. Große Rembrandt-Ausstellungen steigern die Nachfrage.

Die letzten beiden Male als ich Theun de Vries besuchte, führten wir ein langes Gespräch über sein Leben und seine Bücher. Ich zeichnete alles auf, um es für eine Radiosendung zu verwenden. Aber der Verlagsalltag hat es bisher nicht zugelassen, mich weiter mit einem Porträt für den Rundfunk zu beschäftigen. Nach Theun de Vries Tod erschienen lange Nachrufe in den niederländischen Medien. In Deutschland nahm niemand Notiz von seinem Ableben.

Ebenso wie Edgar Hilsenrath oder Teodor Müller ist Theun de Vries für mich der Zugang zu einer vergangenen Welt, die heimlich in unsere Zeit hineinreicht. Fasziniert höre ich Ihnen zu oder lese, was sie mir zu erzählen haben.

t’Gasthuys AMSTERDAM

Montag, 4. September 2006

Endlich wieder in Amsterdam. Von Berlin aus macht man sich nicht eben mal kurz auf den Weg, so wie aus Köln. Dort stieg ich morgens in den Zug, trank eine Tasse Kaffee, las die Zeitung und wenig später traf ich bei meinem Autor Willem de Vries in der Utrechtse-
dwarsstraat ein. Willem ist Musikwissenschaftler. Sein Buch »SONDERSTAB MUSIK – Organisierte Plünderungen in Westeuropa von 1940-45« schlug in der deutschen Musikwissenschaft wie eine Bombe ein. Namen bekannter deutscher Musikwissenschaftler tauchen auf, die im Krieg selbst Hand anlegten und klauten wie die Raben, in Amsterdam, Paris und Brüssel. Im Nachruf eines dieser edlen Musikritter war später zu lesen, er sei ein Liebhaber von Musik-Autographen gewesen. So kann man es natürlich auch ausdrücken. Im t’gasthuys wird Johnny Cash gespielt, die alten, nicht die neuen Songs, und die jungen Gäste hier im Studentenviertel applaudieren als »Ring of Fire« ertönt, und sie singen gemeinsam den Refrain. Sehr tief: Ring of Fire. Gestern war ich mit Edgar Hilsenrath im Frosch-Café in Leipzig zu einer Lesung aus »Der Nazi & der Friseur«. Fünfzig zahlende Zuschauer. Die Mutter des Besitzers Bremke, die Edgar Hilsenrath als sportlich einschätzte und noch jung, war auf der Gästeliste, vermehrte unser Honorar deshalb nicht. Morgen lese ich mit Edgar Hilsenrath im Goethe-Institut in der Herengracht wieder aus Hilsenraths grotesken und sarkastischen Roman »Der Nazi & der Friseur«. Hoffe, dass die Besucher nicht alle so alt sind wie ich. Zwei Tage zuvor in Leipzig ist es gemischt. Als wir ankommen, müssen zuerst die kleinen Schreihälse vertrieben werden. Vielleicht durfte Edgar ihretwegen nicht rauchen. Ein Nicht-Raucher-Café! Müsste ich als Nichtraucher ja begrüßen. Ist mir aber meistens zu rigide. In zwei Tagen erscheint nun endlich der neue Roman von Edgar Hilsenrath »Berlin Endstation«. Aber für mich geht es dann schon wieder aus Berlin hinaus. Dieses Mal mit dem Auto ins Sauerland.

LITTLE PUB

Freitag, 1. September 2006

Ein gescheiterter Versuch zu schreiben, weil ich mich im LITTLE PUB in der Dunckerstraße in ein Gespräch einmische, das mit der Fußballweltmeisterschaft beginnt, zur Umstrukturierung der Bevölkerung in Prenzlauer Berg führt und mit einem therapeutischen Gespräch des bekennenden Alkoholikers NN endet. Danach gehe ich in die Uralt-Blueskneipe in die Raumerstraße, Treffpunkt einer der früheren Szenen von Prenzlauer Berg, heute vermischt mit einigen Touristen und manchmal einem stillen Beobachter wie mir.