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Literatur-Nobelpreis

Samstag, 14. Oktober 2006

Orhan Pamuk erhält den Nobelpreis für Literatur 2006.

Im letzten Jahr während der Buchmesse wird ihm in der Paulskirche in Frankfurt der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Immer wenn Autoren, die mir wichtig sind, diesen Preis erhalten, bemühe ich mich um eine Karte für die Preisverleihung. Paulskirche FrankfurtAls Verleger eines kleinen Verlages erhält man einen Stehplatz. So habe ich einen guten Überblick. Minister Schäuble kommt
erheblich zu spät, wird an den Rand der ersten Reihe gerollt. Es braucht etwas, ehe er sich auf die Rede des Laudators konzentrieren kann. Erst einmal scannt er die vorderen Reihen ab, stützt sich auf den Lehnen seines Rollstuhls ab, um besser sehen zu können, wer denn alles Wichtige anwesend ist.

Alle erwarten in der Rede von Orhan Pamuk, dass er sich noch einmal eindeutig zum Genozid an den Armenier in der Türkei 1915/16 äußert, den die offizielle Türkei bis heute nicht anerkannt hat. Diejenigen, die darüber reden und schreiben, werden vor Gericht gebracht. Pamuk hat den Völkermord in einem Buch erwähnt. Deshalb klagt man ihn in der Türkei an. Das Urteil soll in den nächsten Wochen gefällt werden. Aber er hält sich diplomatisch zurück, fordert stattdessen in Frankfurt vor Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in der ersten Reihe sitzt, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer des europäischen Türken Orhan
Pamuk.

Özgen ErginMein Freund Özgen Ergin lebt bis zum Frühjahr dieses Jahres in Köln. Er kommt 1973 als Gastarbeiter nach Deutschland, wechselt später aus der Fabrik in den Sozialdienst eines ökumenischen Trägers, berät dort die unterschiedlichsten Nationalitäten und hilft ihnen zumeist bei ihren Problemen mit den deutschen Behörden. In jeder freien Minute schreibt er. 1987 erscheint sein erster Erzählband in Istanbul. Es folgen bald zwei weitere. Vor zwei Jahren erscheint sein erster Roman. Özgen Ergin schreibt seine Bücher auf türkisch. Dreißig Jahre hat er Angst, seine Sprache zu verlieren. Oft fährt er in die Türkei, liest auch in Deutschland türkische Zeitungen und sieht türkische Fernsehsender. Der Preis dafür ist, dass, wer mit ihm spricht, vermutete, er sei erst kurze Zeit in Deutschland.

Mit ihm zusammen organisiere ich von 1985-1986 im aterlier-theater in Köln deutsch-türkische Autorenlesungen. Ein deutscher und ein türkischer Autor lesen und sprechen nach ihren Vorträgen über ihre Texte. Das Publikum kann sich beteiligen.

Kurze Zeit später schreibe ich meinen ersten Roman »Operation Texel«. Ein Schwerpunkt ist der heimliche Rassismus der Nachkriegsdeutschen. Auch der Völkermord an den Armeniern wird in dem Buch thematisiert. Özgen redet nicht gegen den Standpunkt der Protagonistin in dem Roman. Er erzählt mir bei unseren vielen gemeinsamen Essen von seiner Familie in der Türkei. Es kommen Armenier vor und Kurden. So sei es in vielen Familien. Ich höre ihm immer sehr gerne zu. Irgendwann schmunzelt er vor sich hin. Prostet mir mit seinem Raki-Glas zu und beginnt eine Geschichte zu erzählen, eine neue Erzählung, an der er gerade schreibt. Mit viel Ironie und Humor erzählt er über seine türkischen Landsleute in Deutschland, deckt liebevoll ihre Schwächen auf und mit zwinkerndem Auge beschreibt er die Sichtweise der Türken auf ihre deutschen Mitbürger. 1992 bringe ich einen Sammelband mit seinen Erzählungen mit dem Titel »Charlie Kemal« heraus.
Jetzt ist Özgen Ergin zurück in die Türkei gegangen. Seine Frau hatte großes Heimweh und auch Özgen zieht es wieder in die Wärme. Ihre Kinder sind aus dem Haus und im Beruf. Ihre
erste Sprache ist deutsch. Kürzlich schreibt Özgen mir, mit den Menschen in seiner neuen Heimat Türkei sei es noch ein bisschen problematisch. Er müsse sich noch reintegrieren.

Edgar Hilsenrath ist zurück aus den USA. Er war drei Wochen bei seinem Bruder in Arkansas. Als wir gestern zusammen bei seinem Griechen um die Ecke essen, erzählt er mir, dass ihn gestern eine Freundin angerufen habe und fragte, warum nicht er den Literatur-Nobelpreis erhalte.
Die Frage sei berechtigt, sage ich, schließlich habe er mit seinem Roman »Das Märchen vom letzten Gedanken« über den Völkermord an den Armeniern, für den er schon den Alfred Döblin Preis erhielt und in diesem Jahr den Armenischen Nationalpreis für Literatur, Welt-
literatur geschrieben. Ebenso mit seinen Romanen »Nacht« und »Der Nazi & der Friseur«. So habe er für sein Gesamtwerk schon lange den Literatur-Nobelpreis verdient.

Während meines Lobes nippt Edgar Hilsenrath an seinem Espresso und steckt sich eine neue Zigarette an.

t’Gasthuys AMSTERDAM

Montag, 4. September 2006

Endlich wieder in Amsterdam. Von Berlin aus macht man sich nicht eben mal kurz auf den Weg, so wie aus Köln. Dort stieg ich morgens in den Zug, trank eine Tasse Kaffee, las die Zeitung und wenig später traf ich bei meinem Autor Willem de Vries in der Utrechtse-
dwarsstraat ein. Willem ist Musikwissenschaftler. Sein Buch »SONDERSTAB MUSIK – Organisierte Plünderungen in Westeuropa von 1940-45« schlug in der deutschen Musikwissenschaft wie eine Bombe ein. Namen bekannter deutscher Musikwissenschaftler tauchen auf, die im Krieg selbst Hand anlegten und klauten wie die Raben, in Amsterdam, Paris und Brüssel. Im Nachruf eines dieser edlen Musikritter war später zu lesen, er sei ein Liebhaber von Musik-Autographen gewesen. So kann man es natürlich auch ausdrücken. Im t’gasthuys wird Johnny Cash gespielt, die alten, nicht die neuen Songs, und die jungen Gäste hier im Studentenviertel applaudieren als »Ring of Fire« ertönt, und sie singen gemeinsam den Refrain. Sehr tief: Ring of Fire. Gestern war ich mit Edgar Hilsenrath im Frosch-Café in Leipzig zu einer Lesung aus »Der Nazi & der Friseur«. Fünfzig zahlende Zuschauer. Die Mutter des Besitzers Bremke, die Edgar Hilsenrath als sportlich einschätzte und noch jung, war auf der Gästeliste, vermehrte unser Honorar deshalb nicht. Morgen lese ich mit Edgar Hilsenrath im Goethe-Institut in der Herengracht wieder aus Hilsenraths grotesken und sarkastischen Roman »Der Nazi & der Friseur«. Hoffe, dass die Besucher nicht alle so alt sind wie ich. Zwei Tage zuvor in Leipzig ist es gemischt. Als wir ankommen, müssen zuerst die kleinen Schreihälse vertrieben werden. Vielleicht durfte Edgar ihretwegen nicht rauchen. Ein Nicht-Raucher-Café! Müsste ich als Nichtraucher ja begrüßen. Ist mir aber meistens zu rigide. In zwei Tagen erscheint nun endlich der neue Roman von Edgar Hilsenrath »Berlin Endstation«. Aber für mich geht es dann schon wieder aus Berlin hinaus. Dieses Mal mit dem Auto ins Sauerland.