7. DEZEMBER 2012 – Vietnam Impressionen (1)
Auf dem Fluhafen in Hanoi werden wir von Thê mit einem Namensschild erwartet. Sonderabfertigung beim Zoll. Thê wartet draußen, während wir zum Rollband für die Gepäckausgabe gehen.
Zwei Stunden starren wir auf das aufsteigende Förderband. Eine Frau vor uns hat bereits seit längerem ihr Gepäck, aber ihr Mann wartet noch auf seinen Koffer. Eine Reisegruppe muss auf zwei Teilnehmer Rücksicht nehmen. Immer mehr gehen zum »Lost and Found« Schalter. 500 Gepäckstücke seien in Frankfurt stehengeblieben. Dafür laufen Koffer für Saigon seit zwei Stunden im Kreis, verstopfen das Laufband für das Reisegepäck der nächsten bereits angekommenen Maschine. Das Flughafenpersonal stellt die Taschen, Kartons, Koffer und Rucksäcke neben das Laufband.
Kleine Ehedramen spielen sich ab, wenn die Frau mit den Pässen schon aus dem Zollbereich nach draußen gegangen ist oder der Mann nicht in hörweite steht. Lautes, ärgerliches Rufen. Das unterdrückte »Du Idiot!« oder »Wie blöd kann man denn nur sein!« schwingt mit. Eine Frau möchte von dem Vietnamesen hinter dem Schalter jetzt aber endlich mal wissen, wie das denn habe passieren können. Das wüsste der sicherlich auch gern, hilft aber den aufgeregten Mitbetroffenen im Moment auch nicht weiter, die alle ebenso wie wir Hanoi ohne ihr Gepäck werden verlassen müssen, da die meisten nur eine Nacht bleiben und dann weiter nach Ninh Binh oder zur Halong Bucht reisen.
Um so hektischer die Menschen, desto ruhiger werde ich, weil ich sehe, dass ich nichts beeinflussen kann. Ich beobachte das Treiben um mich herum. Schließlich fehlen uns nur Koffer und Tasche. Wir sind vollständig bekleidet, haben sogar Pullover und eine Jacke dabei. Und das Gepäck wird man uns in Kürze nachschicken.
Thê ist sehr klein, hat große dunkle Augen. Wir haben zwei Stunden Verspätung. Er muss sein Programm ändern. Er telefoniert, bittet unseren wartenden Fahrer mit dem weißen Toyota vorzufahren. Leicht erhöht sitzen wir auf der Rückbank und trinken das gekühlte Wasser, das uns der Fahrer auf den Sitz gelegt hat. Thê teilt uns den Tagesablauf mit. Erst einmal einchecken im Hotel, frühstücken, etwas ausruhen und dann vielleicht ein paar Ersatzklamotten einkaufen. Er zeigt uns auf der Karte eine Straße in der Nähe. Dort in den Geschäften würden wir alles finden.
Ankunft im Hotel. Vor dem Eingangsbereich ein großer, bunt geschmückter Weihnachtsbaum. Uns wird die Tür von zwei jungen Bediensteten geöffnet. Im Frühstücksraum, ebenfalls weihnachtlich kitschig geschmückt, eine Gruppe mit überwiegend dicken Amerikanern in kurzen Hosen, weißen Socken und Sandalen.
Auf in die Altstadt, T-Shirts und Unterwäsche kaufen. Erste Straßenüberquerung ein Abenteuer. Viele rote Stoffbanner sind über die Straßen gespannt: 1972-2012. Vor 40 Jahren an Weihnachten haben die Amerikaner Hanoi bombardiert. Ho Chi Minh ist auf Fotos noch überall gegenwärtig. Der Krieg noch präsent, die Zerstörungen im Bewusstsein der Bevölkerung. Die kleinen Straßen sind voller Mofas. Man muss berechenbar sein im Straßenverkehr, auch als Fußgänger. Ganz ruhig im wimmelnden Verkehr die Straßenseite wechseln. Autos werden langsam, Fahrrad- und Mofafahrer weichen wie selbstverständlich aus, fahren links oder rechts an einem vorbei. Keine erbosten Gesichter, keine Aggressionen, normaler Straßenverkehr.
Im Hotel duschen wir, ziehen uns die frisch erworbenen Sachen an. Strümpfe in meiner Größe gab es nicht. Wir legen uns eine halbe Stunde aufs Bett. Dann wartet Thê schon auf uns. Besuch bei dem in Vietnam sehr bekannten Künstler Dao An Khanh. Wir fahren über den Roten Fluss, dessen Umland die Wiege des vietnamesischen Volkes war, zu dem Außenbezirk Long Bien. Am Straßenrand eine schmaler Parallelweg, an dem einige Häuser stehen und von dem Stichstraßen abzweigen. Eine davon gehen wir zu Fuß bis zum Ende. Dort steht das außen mit Holzstangen verzierte Haus. Der Künstler sei in Europa, teilt uns eine sehr attraktive Vietnamesin mit, die anstatt Dao An Khanhs auf uns wartet. Sie wird uns seinen Garten, sein Holzhaus, das gleichzeitig auch Atelier ist, zeigen.
Sie schwärmt von Dao An Khanh, erklärt uns seine Gartenskulpturen, warum er zwischen Sträuchern und Bäumen in einer Wanne badet (trotz vieler Moskitos, von denen drei bei mir jetzt schon zugeschlagen haben), und zeigt uns seine erotisch dominierten Gemälde, die mich ein bisschen an das Werk von Gustav Klimt erinnern. In Vietnam lösten die nackten Frauenkörper noch Unverständnis aus. Hier sei man noch nicht so weit, sagt Thê, der sieben Jahre in Deutschland gelebt hat, dort als Techniker arbeitete und studierte.
Die Muse des Künstlers erzählt, dass Dao An Khanh bisher mit zwei Frauen zusammengelebt habe, aber er konnte ihnen nicht seine Liebe zeigen. Richtig geliebt habe er sie erst, als sie nicht mehr bei ihnen waren. Mit ihr scheint es anders zu sein.
Wir sehen auch den Wohnraum des Künstlers. Etwas im Dunkeln ein großer Altar mit zwei Buddha Figuren, davor stehen Zeichnungen. Zum Abschluss trinken wir Tee und die Schöne zeigt uns Fotos von Kunstprojekten, gigantische Skulpturen am Straßenrand zum tausendjährigen bestehen von Vietnam (1012-2012). Wenn man das sieht und hört, was Thê und die Muse von seinen Austellungen berichten, ist es für mich etwas unverständlich, dass der Künstler trotzdem noch beruflich als Polizist für sein Einkommen sorgen muss. Immerhin aber eine interessante Berufskombination. Ähnlich wie die von Anatol, der als Motoradstreife arbeitete und bei Joseph Beuys studierte.
Wir müssen los, in der Stadt wartet eine junge Germanistik-Studentin am Hoan-Kiem See auf uns, am See des zurückgegebenen Schwertes, wie die Sage besagt. Eine goldene Schildkröte taucht mitten im See auf und übergibt dem Großgrundbesitzer Le Loi ein Schwert. Nach fast zehnjährigem sieglosem Unabhängigkeitskampf gegen die chinesischen Besatzer der Ming-Dynastie kehrt Le Loi mit dem Schwert siegreich zurück. Und wieder taucht die Schildkröte auf und wie von magischer Hand gleitet das Schwert von Le Loi in ihr Maul zurück. Thê erzählt uns diese Sage, als wir auf die Studentin warten. Sie soll uns einige der 36 Straßen in der Altstadt zeigen, die noch heute die Namen der früheren Zünfte führen, nach denen diese Straßen ihre Namen tragen. Wir sind durch die Zeitumstellung und durch die Aufregung am Flughafen sehr müde. Unsere zierliche Chinesin, die aus einem Ort mehr als 1oo Kilometer nördlich von Hanoi stammt, möchte Deutsch sprechen und uns viel erzählen. Obwohl sie noch nie ihr Land verlassen hat, spricht sie sehr gutes Deutsch. Wir würden die Ausbildung in Vietnam nicht kennen, sagt sie mit stolzem Gesichtsausdruck. Nur einer von uns kann neben ihr gehen und ihr zuhören.
Es herrscht ein ohrenbetäubender Lärm von den Mofas und hupenden Autos und Vespas auf der Straße. Zudem müssen wir uns auf der Fahrbahn fortbewegen, weil fast alle Fußwege von kleinen Motorrädern zugestellt sind. Ich schlage vor, einen Tee in einem der Straßenlokale zu trinken, wir seien heute schon so viel gelaufen und wir könnten uns so besser unterhalten. Sie stutzt einen Moment. Wir laden Sie ein. Okay! Nach einer halben Stunde laufen wir wieder los, weil Thê uns gesagt hat, in einer Stunde sollten wir zurück sei. Aber unsere junge Studentin mit der intelligenten Brille hat sich ein Programm vorgenommen, und mit oder ohne Teepause, das zieht sie gnadenlos durch, treibt uns durch die vollen Straßen, fragt alle paar Minuten jemandem nach dem Weg. Sie habe kein gutes Orientierungsvermögen. Die Straßen seien hier nach einem Planquadrat aufgebaut, alle seien gleich, da wüsste man nie genau wo man sei. Sie erzählt mir, warum die meisten Häuser hier in den Straßen nur sehr schmal seien. Viele Handwerker wollten einen Laden aufmachen, und es gab nur wenig Platz, so wollte man, dass jeder die Möglichkeit bekommt, seine Waren zur Straße hin zu präsentieren. Deshalb seien die Häuser teilweise nur 5-6 Meter breit und sehr weit in die Tiefe gebaut, manchmal bis zu 70 Metern, so dass die Zimmer alle hintereinander liegen. Wenn mehr Platz sei, gäbe es noch einen schmalen Flur, von dem man in die Zimmer ginge. So gäbe es in der Wohnung mehrere Zimmer ohne Fenster. Sie möchte uns auch unbedingt noch den Markt zeigen, auf dem man alles kaufen könne. Gemüse, Fleisch, Fisch, Kleidung. Oft sind es nur sehr kleine Stände mit einem schmalen Tisch. Auf einem liegen Fleischstücke blank auf der Tischplatte.
Jeder versucht irgendetwas zu verkaufen. Unsere Studentin legt mir nahe, nicht in teuren Restaurants zu essen, da sei das Essen nicht gut. In kleinen Restaurants bekämen wir sehr gute Gerichte und auch von den kleinen Garküchen auf der Straße, wo Frauen die Speisen frisch zubereiten. Natürlich müssten wir darauf achten, dass alles sauber sei. Das könnten wir ja sehen. Thê ruft an und fragt, wo wir blieben. Ein paar Straßen möchte unsere junge Begleiterin uns aber trotzdem noch zeigen. Wir sollten uns nicht hetzen lassen, schließlich seien wir im Urlaub. Sie weiß, was sie will. Fragt wieder nach dem Weg. Wir sind total müde, haben kaum geschlafen und laufen jetzt mindestens schon wieder eine Stunde durch die Gassen. Ja, kein Problem, wir seien gleich da. Nach zehn Minuten erkenne ich die Straße, die zum See führt. Mit dem Wetter hatten wir scheinbar Glück, denn die Tage zuvor muss es geregnet haben. Thê erwartet uns schon sehnsüchtig, weil wir einen Termin für eine Fußmassage in einem großen Hotel haben, das zur Zeit umgebaut wird. Aber der SPA Bereich besteht. Es riecht nach Rosenwasser. Zur Begrüßung trinken wir eine Tasse Tee. Wir ziehen die Schuhe aus, werden von zwei jungen Vietnamesinnen begrüßt und in einen Raum geführt. Wir möchten uns bitte die Hosen ausziehen. Auf den beiden Liegen im Raum liegen Bademäntel. Sie verschwinden kurz und bitten uns dann, auf den Stühlen Platz zu nehmen, vor denen Schüsseln mit Rosenwasser stehen. Sie waschen uns die Füße und trocknen sie ab. Dann beginnt die Massage auf den Liegen. Füße, Waden, Schenkel, wieder Füße, dann der Nacken, die Kopfhaut. Ich schaue in das schöne Gesicht und in die Augen meiner jungen Vietnamesin, als sie mir den Nacken massiert. Schnell blickt sie zur Seite. Wir bedanken uns sehr herzlich und trinken noch einen Abschiedstee, sind entspannt. Aber Thê drängt zum Aufbruch. Die Agentur hat einen Tisch in einem Restaurant für uns reserviert. Zur Begrüßung seien wir eingeladen. Ein schönes Lokal. Wie überall ist die Klimaanlage an und es ist viel zu kalt an unserem Tisch. Wir erhalten das Einheitsmenü mit fünf Gängen, die alle auf einmal auf den Tisch gestellt werden. Nach dem abschließenden Kaffee will uns Thê mit unserem Fahrer ins Hotel bringen. Es ist kurz nach acht und noch angenehm warm.
Wir lassen uns am See absetzen. Schauen einem Tanzkurs an der Uferpromenade zu. Es wird Rumba und Tango unterrichtet. Ich beobachte eine Vietnamesin mit ihrem Partner, die in ihrem figurbetonten Kleid sehr erotische Tanzbewegungen macht. In der Mitte des Sees steht, von Scheinwerfern angestrahlt, eine Pagode, die sich im See spiegelt. Genau an dieser Stelle soll die Schildkröte aus dem See gekommen sein.