21. DEZEMBER 2012 – Vietnam Impressionen (5)
Auf dem Weg zur etwas erhöht liegenden Thien Mu Pagode oberhalb des Parfümflusses bei strahlend blauem Himmel wiederholt Hoa, der eine helle Hose, ein weißes Hemd und eine khakigrüne Kappe mit dem roten Vietnamstern trägt, in einem kurzen Geschichts-
exkurs noch einmal die Erfolge des vietnamesischen Volkes in den letzten 1000 Jahren. Ein so kleines Land, nie verloren, Wahnsinn, ey! Vietnam sei seit 1010 ein eigenständiger Staat. Vorher war Vietnam eine Provinz der Chinesen. Von Hoa werden wir noch viel lernen auf dieser Reise. Eine seiner Weisheiten: »Dicker Bauch – Kurzes Leben. So sei das!«
Hoas Eltern stammen aus Hue. Sein Vater sei mit seiner Familie nach Hanoi gegangen, um sich den Befreiungstruppen Ho Chi Minhs anzuschließen. Er war Professor für Literatur, vorher Lehrer. Der Vater schloss sich in Honoi der Kommunistischen Partei an. Er traf auch mit Ho Chi Minh zusammen, worauf er sehr stolz gewesen sei. Im Krieg gegen die Franzosen verlor er einen Arm. Danach im Krieg gegen die Amerikaner arbeitete er wieder. Aber er unterrichtete seine Schüler nicht nur in Literatur, sondern brachte ihnen auch das Schießen bei. Wenn die amerikanischen Angriffe kamen, mussten sie sich verteidigen können und kämpfen. So sei das gewesen!
Ho Chi Minh und auch sein Vater seien keine wirklichen Kommunisten gewesen, sie waren Patrioten und Nationalisten, und wollten etwas für Vietnam tun. Immer sei es bei seinem Vater nur um die Gemeinschaft, um Vietnam gegangen und weniger um die Familie. Das habe er damals nicht verstehen und akzeptieren können, deshalb wollte er so schnell wie möglich sein eigenes Leben führen. Habe das Leben des Vaters abgelehnt. Er ging 1994 in die Tschechoslowakei, nach Prag, um dort Literatur zu studieren. Das habe ihm sein Vater vermittelt, weil er Angst gehabt habe, Hoa kehre sonst als Dieb zurück. Aber er sei mit Hilfe von vietnamesischen Freunden, die bereits in Deutschland lebten, illegal über die Grüne Grenze nach Deutschland eingewandert und habe einen Asylantrag gestellt. Nein, er sei nicht verfolgt gewesen, aber in Deutschland reichte es, aus einem kommunistischen Land zu kommen, um erfolgreich einen Asylantrag stellen zu können. Hoa arbeitete in München und Nürnberg in Biergärten und in asiatischen Restaurants illegal als Kellner. In der Küche arbeiten acht Leute, davon sieben illegale Vietnamesen. Der Wirt hatte auch ein Restaurant auf dem Flughafen, in dem viele Illegale arbeiteten. Er stand sich gut mit den Mitarbeiterern aus dem Arbeitsamt. Wenn Kontrollen kamen, sagte der Chef: Hoa, morgen bleibst Du zu Hause. Ja, so sei das gewesen. Die Vietnamesen waren flexibel. Wenn es voll war, blieben sie so lange wie der Chef es wollte. Die deutschen Angestellten packten eine halbe Stunde vor Feierabend schon ihre Sachen zusammen. Deshalb waren die vietnamesischen illegalen Angestellten sehr begehrt, und nur deshalb konnte er in Deutschland so lange ohne Arbeits- erlaubnis arbeiten. Zuerst nur verborgen in der Küche, aber dann, als der Chef in Not war wegen eines fehlenden Kellners, sei er für diesen eingesprungen und habe an dem Abend so viel Umsatz gemacht, dass er von da an am Wochenende kellnern durfte. Dabei habe er manchmal mit Trinkgeld 400 DM verdient. Er wollte nicht weg aus Deutschland. Aber dann sei sein sieben Jahre jüngerer Bruder bei einem Motoradunfall gestorben. Und er musste als jetzt nur noch einzige Sohn der Familie zurück nach Vietnam. Sein Vater war mit der Familie von Hanoi in die Beamten- und Gelehrtenstadt Hue gegangen, als Hoa drei Jahre alt war. Er wurde dort an der Uni Professor für Literatur und seine Mutter habe als Lehrerin für Lite- ratur gearbeitet. Sie war zwanzig Jahre jünger als der Vater. Vor fünf Jahren sei sein Vater mit über neunzig gestorben. Bis zuletzt habe er jeden Morgen Tai Chi gemacht, sehr diszipliniert gelebt und sich gesund ernährt. Er sei immer ein vietnamesischer Patriot gewesen, natürlich auch Kommunist, aber in einem sehr positiven Sinne. Früher habe er seinen Vater mit seinen strengen Lebensregeln nicht verstehen können. Seitdem er tot sei, würde er immer mehr Verständnis für ihn haben. Das alles erzählte uns Hoa im Laufe unseres viertägigen Zusammenseins.
Wir genießen die Sonne bei der Besichtigung der Thien Mu Pagode. Die singenden Mönche erleben wir aber eben so wenig wie die Langohraffen in der Lagune in der Halong Bucht.
Wir gehen eine steile Treppenflucht zu dem Phuoc-Duyen-Turm. Die sieben Stockwerke symbolisieren die verschiedenen Inkarnationen Buddhas. Dann stehen wir vor dem großen dickbäuchigen lachenden Budda Di Lac. Der dicke Bauch bedeute, dass der Buddha das Böse der Menschen in sich trägt. Aber trotzdem lache er, sagt Hoa. Anders als der leidende Christi, denke ich, der zwar alle Last auf sich nimmt, aber die Menschen gleichzeitig mit Schuld belädt. So scheint mir für den einzelnen Menschen der Buddhismus doch eine glücklichere Variante des Glaubens zu sein. Verwundert schauen wir im hinteren Teil des Klostergeländes auf einen dort ausgestellten blauen Austin. Mit dem sei der aus Hue stammende Mönch Thich Quang Duc am 11. Juni 1963 nach Saigon gefahren und habe sich dort auf einer vielbefahrenen Kreuzung von anderen Mönchen mit Benzin übergießen und anzünden lassen, aus Protest gegen den von den Amerikanern gestützten katholischen Präsidenten Diem. Dieses Foto ging damals um die Welt. Und Thich Quang Duc blieb nicht der einzige Mönch aus Hue der diesen Protest gegen das verhasste südvietnamesische Regime wählte und mit dazu beitrug, dass die Amerikaner Präsident Diem fallen ließen. War es ein Zufall, dass Diem wenige Monate später ermordet wurde?
Wir fahren weiter und besichtigen eines der typischen Gartenhäuser oberhalb des Parfümflusses, für die Hue bekannt sein soll. Es sei noch im Privatbesitz erzählt Hoa. Die Erben möchten das Haus verkaufen, können sich aber nicht einigen. Ein Brautpaar in traditioneller vietnamesischer roter Kleidung lässt sich vor dem Haus und dem Garten fotografieren. Es soll Glück für die bevorstehende Ehe bringen.
Nur zweihundert Jahre war Hue Kaiserstadt. Und der Kaiserpalast, den wir nach dem Gartenhaus besichtigen, wurde zu großen Teilen im März 1968 von den Amerikanern zerstört. Nach der Tet-Offensive am 31. Januar 1968, dem vietnamesischen Neujahrsfest, griffen die Viet Minh und die südvietnamesischen Vietcong den Süden des Landes an und besetzten sogar für kurze Zeit die amerikanische Botschaft. Ein Riesenschock für die gesamte amerikanische Bevölkerung, der zu einem gnadenlosen militärischen Gegenschlag der US-Armee führte, bei dem auch der Kaiserpalast gegen die sich dort verschanzte vietnamesische Befreiungsarmee nicht verschont wurde. Dass kurze Zeit später, am 18. März 1968, das Massaker in dem Dorf My Lai stattfand, in dem US-Soldaten fast alle Dorfbewohner ermordeten, passt dabei gut in das gesamte Bild. Der verantwortliche amerikanische Offizier wurde dafür zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt, aber bereits nach zwei Jahren wieder entlassen.
Vor dem Kaiserpalast stehen Fahrräder für uns bereit. Wir fahren an den Mauern des Palastes entlang und danach über die Brücke in die Innenstadt.
Hoa zeigt auf eine Stelle am Ufer des Parfümflusses und erzählt, dass er hier früher mit seinem Vater schwimmen gegangen sei. Heute sei der Fluss zu schmutzig, um dort zu baden. Wir kommen an dem Gebäude vorbei, an dem Ho Chi Minh zu Schule ging und auch am Ho Chi Minh Museum, vor dem ein großes Plakat mit dessen typischem Konterfei zu sehen ist.
Wir biegen in eine Seitenstraße ein, fahren noch ein kleines Stück und erreichen dann ein traditionelles vietnamesisches Restaurant, in dem fast nur Einheimische zu speisen scheinen. Wir sind überrascht, dass sich Hoa und unser Fahrer mit an den Tisch setzen. Hoa fragt uns, ob er ein paar Kleinigkeiten, etwas für die vietnamesische Küche Typisches, für uns bestellen dürfe. Octopus und Tofu gegrillt, Nudelsuppe mit auf einem Extrateller servierten Sojasprossen und Kräuterblättern, dazu wird Reis serviert. Alles schmeckt sehr köstlich. Dazu trinken wir Jasmintee. Als die Rechnung kommt schaut uns Hoa an und sagt: »Alles zusammen neun Euro. Wahnsinn, ey!«
Am nächsten Morgen besuchen wir das Grab des vorletzten der 13 Nguyen-Kaiser. Mit dem Bau ihres eigenen Grabes begannen die Kaiser kurz nachdem sie auf dem Thron gestiegen waren, so konnten sie selbst den Ruhm für ihre Nachwelt bestimmen. Da die Ahnen ja weiter leben, nur in einem anderen energetischen Stoff, muss für ihre, wenn auch immer nur kurze Rückkehr, alles bereit stehen. Und wie im Leben, müssen die Vorbereitungen dafür getroffen werden. So gibt es im Kaisergrab auch Räume für die Konkubinen. Aus Angst, dass sein Grab geschändet und die Knochen entnommen werden könnten, hat unser Kaiser, den wir heute besuchen, seine Gebeine von engsten Vertrauten an einer geheimen Stelle bestatten lassen. Da der vorletzte Kaiser erst im 20. Jahrhundert bestattet wurde, gibt es außer Gemälden auch große Fotografien von ihm und seinen Hauptfrauen.
Hoa erklärt uns die Symbole der geschnitzten Tierstatuen. Der Drachen ist nicht wie bei uns ein böser Drachen, sondern er verspricht Glück und Erfolg. Ebenso wie die Fledermaus. Die Schildkröte symbolisiert die Bodenhaftigkeit, deshalb stehen die Götter und Heiligen auf ihrem Panzer. Der Mensch ist in der Hierarchie ganz unten, dann kommt die Erde und an höchster Stelle der Himmel.
Wir fahren Richtung Hai-Van-Pass. Der Wolkenpass, ist die Wetterscheide zwischen tropischem und subtropischem Klima. Unterwegs regnet es wieder. Überall dunkle Wolken, manchmal kommt ein bisschen die Sonne durch. Ein Lastwagen mit Tieren kommt uns entgegen. Da seien Hunde für den Norden drin, sagt Hoa. Im Norden essen sie Hunde, dort seien sie eine besondere Speziali-
tät, so sei das. Er esse zwar auch keine Hunde, aber wenn er im Norden sei, dort zum Essen eingeladen, dann dürfe er es nicht ablehnen, Hundefleisch zu essen. Das wäre eine große Beleidigung für den Gastgeber. Also esse er dort auch Hund. Man müsse einfach akzeptieren, dass es nicht überall so sei, wie man es von zu Hause kenne, doziert Hoa. In Vietnam stehe der Mann über der Frau, die Alten über die Jungen, so sei das eben. Das könne man gut oder schlecht finden, aber als Gast habe man das zu akzeptieren. Das hören wir noch des öfteren von ihm. Besonders eingeschossen hat er sich auf die Teilnehmer einer be-
stimmten Reiseorganisation, von der er schon viele Gruppen geführt habe, aber jetzt die Reiseleitung für solche Gruppen ablehne. Viele seien Lehrer, die alles besser wissen, und nicht akzeptieren könnten, dass es in Vietnam anders sei als in Deutschland.
Wir fahren den Pass hinauf. Jetzt sei alles wieder schön grün hier, toll was?, sagt Hoa. Früher sei in dieser Gegend überall dichter Dschungel gewesen, bis die Amerikaner aus Angst vor den vietnamesischen Befreiungstruppen, die circa 30 Kilometer entfernt auf dem Ho Chi Minh Pfad Richtung Süden unterwegs gewesen seien, begannen, mit chemischen Entlaubungsmitteln die Bäume zu besprühen und die Nutzpflanzen zu vernichten. Agent Orange nannten sie das. Von den Auswirkungen sind die Leute bis heute betroffen. Auch in der dritten Generation werden noch immer Kinder mit Missbildungen geboren. Auch in Amerika bei Soldaten, die das Gift versprüht hätten. Ein großes Kriegsverbrechen. Aber die Amerikaner haben es nicht geschafft, die Vietnamesen zu schlagen. Dieses kleine Land habe das große Land Amerika geschlagen und vertrieben, Wahnsinn, ey!
Wir müssen vor einer Schranke halten. Vielleicht komme ein Zug, sagt Hoa, das könne aber dauern. Deshalb steigen wir aus. Ein sehr schöner Blick die Küste entlang. Dann kommt der Zug aus Saigon um den Berg herum, rollt an uns vorbei. Oben auf einem Waggon sitzt ein Mann. Früher seien die Dächer voll gewesen. Die Leute besaßen weder Autos noch Motorräder. Die Züge waren völlig überfüllt, so dass es die einzige Möglichkeit gewesen sei, wenn man wegkommen wollte, sich auf das Dach der Waggons zu setzen.
Wir erreichen den Gipfel des Wolkenpasses und steigen kurz aus. Oben stehen immer noch die amerikanischen Befestigungsanlagen. Jetzt können wir auf der anderen Seite des Passes bis nach Da Nang blicken, wo die amerikanischen Bodentruppen das erste Mal in Vietnam einmarschiert sind. In der Stadt besichtigen wir das Cham-Museum. Die Cham lebten damals in Südvietnam, wurden vertrieben als sich der Norden immer weiter Richtung Süden ausbreitete und das Land in Besitz nahm. Uns ist nicht richtig nach Museum, obwohl es sehr interessant ist. Die Sonne kommt durch. In Hoi An haben wir ein Hotel direkt am Meer, wir möchten an den Strand. Aber wir sollen noch eine Marmorfabrik besichtigen. Nein – wir wollen nicht! Bald stehen wir vor dem Meer. Es ist windig und die Wellen sind sehr hoch. Man darf nicht ins Wasser.
Zwei Stunden später ist es trocken. Klarer Sternenhimmel. Wir gehen in einem kleinen Lokal direkt am Fluss essen. Die Stadt verbreitet mit ihren Laternen, die die Straßenbeleuchtung ersetzen, eine romantische Stimmung. Nach dem Essen schlendern wir durch die Gassen der ein wenig musealen Altstadt von Hoi An. Und ich kaufe mir die gleiche grüne Kappe mit dem rotem Vietnamstern wie Hoa.